Vermischtes

Thesen zum Informatikunterricht der Oberstufe
Peter Bartke, Christian Maurer

Die Empfehlungen aus dem Fachbereich 7 der Gesellschaft für Informatik (GI), fordern massiv zum Widerspruch heraus. Die nachfolgenden Thesen sind als Kristallisationskeime für die Entwicklung von Alternativen gedacht.

Hierzu suchen wir innerhalb und außerhalb des FB 7 der GI Gleichgesinnte und Bündnispartner. Kommentare und Anregungen an bartke,maurer@inf.fu-berlin.de sind willkommen.


Anspruchsniveau

Das Schulfach Informatik muß sich als Schulfach der gymnasialen Oberstufe der Konkurrenz der anderen Fächer des mathematisch-naturwissenschaftlichen Aufgabenfeldes stellen. In dieser Konkurrenz kann es nur dann bestehen, wenn Inhalte in einem Anspruchsniveau präsentiert werden, das dem der Physik, Chemie, Biologie oder Mathematik vergleichbar ist.

Inhalte

Die Kerninhalte des Schulfachs Informatik sind weitgehend zeitinvariant bestimmbar. Sie können aus dem Grundkanon der Lehre an den Universitäten durch sorgfältige Analyse und didaktische Reduktion extrahiert werden - wie in jedem anderen Fach auch. Die Rahmenpläne des Faches Informatik sollten daher von aktuell-modischen Entwicklungen weitgehend freigehalten werden und damit über längere Zeiträume mit nur geringen Revisionen gültig bleiben können.

Spracherziehung

Informatikunterricht leistet einen wichtigen Beitrag zur Schulung des Denkens und der sprachlichen Fähigkeiten. Die Erziehung zu sprachlich präzisen Formulierungen von Spezifikationen ist im Hinblick auf die Allgemeinbildung vergleichbar den Bemühungen der sprachlichen Fächer.

Didaktik

Zu den dringendsten Aufgaben der Informatik-Didaktik an den Hochschulen zählt die Analyse der für die Reduktion auf Schulniveau geeigneten Themen. Dabei ist sicherzustellen, daß durch die Auswahl der Stoffe ein zutreffendes Bild der Informatik als wissenschaftliches Fach vermittelt wird, so wie es auch in den anderen Fächern der Fall ist.

Objektorientierung

Konzepte der "Objektorientierung" haben als informatisches Thema ihren Platz nach einer soliden Grundbildung (Voraussetzung: sicheres Operieren mit Verweisstrukturen, Datenabstraktion, Organisation großer Programme), schwerpunktmäßig im Bereich der Softwaretechnik. Die Konzepte der Datenabstraktion und der Objektbasierung sind viel grundlegender und deshalb für den Informatik-Unterricht zentraler.

Anwendungsumfeld

Die Schule muß sich im Hinblick auf ihren Pflichtkanon und eine nicht vermehrbare Stundenzahl gegen Anforderungen von allen Seiten zur Wehr setzen. Bei der Entscheidung, in welchem Umfang das Anwendungsumfeld der Informatik im Unterricht berücksichtigt werden soll, hilft z.B. ein genauer Blick auf die Schulfächer Physik oder Chemie und ein Analogieschluß.

Aktualität

Aktuelle Entwicklungen des Umfelds der Informatik dürfen nicht leichtfertig - aus falsch verstandenem Modernitätsanspruch - zu selbständigen Unterrichtsgegenständen des Faches werden. Sie werden häufig als methodische Zugänge dienen. Ein Hinzufügen zum zeitinvarianten Kern der Schulinformatik soll nur nach sorgfältiger didaktischer Analyse und Güterabwägung geschehen. Ein Informatikunterricht, der modisch aktuelle Themen als Gemischtwarenladen zum Bestaunen anbietet und sich im mitteilenden Unterricht über die Gegenstände erschöpft statt die Gegenstände selbst zu lehren, verfehlt seine Bestimmung.

Modethemen

Netzwerke, Webdesign, Multimedia usw. sind keine Gegenstände des Unterrichts, weil diese Gebiete, als informatische Themen ernst genommen, viel zu kompliziert bzw. zu speziell sind. Echte (berufsqualifizierende) Kompetenzen in diesen Feldern können schon aufgrund der begrenzten Zeit nicht erworben werden. Sie bleiben den neuen IT-Ausbildungsgängen vorbehalten.

Modesprachen

Die Anzahl der zu einer Programmiersprache erschienenen Bücher ist umgekehrt proportional zu ihrer Eignung für den Unterricht. Weil die Schule solide Grundlagen vermitteln soll, muß sie dem Anpassungsdruck bei der Auswahl von Programmiersprachen für den Unterricht (Zwang zur Aktualität, Verwendung von Mainstream-Programmiersprachen) erfolgreich widerstehen.

Schnellebigkeit

Die Schulzeit eines Oberschülers umfaßt zwei komplette Hardware-Rechnergenerationen und mindestens ebensoviele Softwaregenerationen. Ein Unterricht, der auf hardware- oder anwendungsspezifische Inhalte baut, vermittelt den Studenten von morgen die Inhalte von gestern. Daraus folgt: Technische Entwicklungen im Hardware- und Softwarebereich dürfen nur marginale Auswirkungen auf Konzeption, Inhalt und methodische Präsentation im Informatikunterricht haben.

HTML et al.

Das Erlernen von Textauszeichnungssprachen (HTML, XML, TEX, LATEX) ist ggf. eine sinnvolle Beschäftigung für eine Arbeitsgemeinschaft in der Schule, nicht jedoch für den Informatikunterricht. Vorschläge zum Bau eigener Homepages als Inhalt von Informatikunterricht der Oberstufe können bestenfalls fachlicher Unbedarftheit, schlimmstenfalls kompletter Inkompetenz zugerechnet werden. Internet-Recherchen sind eine Hausaufgaben-, AG- oder Projekt-Aktivität und klauen im Unterricht nur wertvolle Zeit.

Anwendungsprogramme

Ein Unterricht zu Anwendungsprogrammen (Textverarbeitung, Tabellenkalkulation etc.) hat im Informatikunterricht nichts zu suchen. Die im Informatikunterricht zu verwendenden Anwendungsprogramme sind Editor, Compiler oder Interpreter und ggf. Entwicklungsumgebungen. Aspekte der in manchen Anwendungsprogrammen verborgenen Abstraktionen können dagegen in geeignet reduzierter Form und an geeigneten Stellen des Kurses (meist im dritten Jahr) thematisiert werden.

Berufsvorbereitung

Der Beitrag des Schulfachs Informatik zur Berufsvorbereitung besteht allein darin, Grundeinsichten und -qualifikationen für zukünftige Spezialisierungen zu vermitteln und ist somit gerade der Beitrag des Faches zur Allgemeinbildung. Dezidiert berufsvorbereitende Elemente können darin genauso wenig Platz haben wie in den anderen Schulfächern. Die Wirtschaft muß die Schulung ihrer aktuell benötigten Qualifikationen selbst vornehmen.

Unterrichtsmethodik

Mit der Methode "10 Minuten Problemeinführung (Lehrer), 80 Minuten Freistil-Implementierung am Rechner (Schüler)", wie sie im Unterricht häufig praktiziert wird, erreicht man weder sichere Kenntnisse noch dauerhafte Motivation. Vielmehr werden gerade Mädchen von solchem Unterricht abgeschreckt, weil hier der stärkere (hackende) männliche Schüler freie Bahn hat. Die Schülerinnen und Schüler haben Anspruch auf kompetenten Unterricht durch eine Fachkraft. Sie ist bis auf weiteres unersetzlich und wird für ihre Kompetenz teuer bezahlt. Die Benutzung des Rechners im Unterricht ist auf die unbedingt nötigen Anteile zu beschränken.

Fächerübergreifender Unterricht

Einbringen informatischer Kompetenz in ein fächerübergreifendes Projekt ist in der Regel erst nach dem zweiten Unterrichtsjahr möglich. Deshalb ist vor überzogenen Projektansprüchen zu warnen. Guter isolierter Fachunterricht ist gescheiterten fächerübergreifenden Projekten vorzuziehen. Auf der anderen Seite erfordert die Erstellung von Webseiten für fachübergreifende Themen lediglich fachliche Kompetenz bei den darzustellenden Inhalten und in ästhetischer Hinsicht. Zu beiden Anteilen kann die Informatik in der Regel keinen Beitrag leisten.

Gesellschaftliche Auswirkungen

An vielen Stellen des Fachunterrichts bietet sich an, Bezüge zu gesellschaftlichen Auswirkungen herzustellen. Insbesondere nach fundamentalen fachlichen Einsichten ist eine kritische Reflexion angebracht. Ganze Unterrichtssequenzen zur Thematisierung der gesellschaftlichen Auswirkungen sind dagegen besser bei den Sozialkunde- bzw. PW-Lehrkräften aufgehoben. Sie verstehen sich auch besser auf die zugehörigen Unterrichtstechniken.

Informatiksysteme

Der von der GI geprägte Begriff des "Informatiksystems" mit seiner verwaschenen, je nach Kontext beliebig interpretierbaren Semantik eignet sich nicht als Abstraktion für die Beschreibung von Zielen und Inhalten des Informatikunterrichts.

Allgemeinbildung

Alle Schulfächer tragen zur Erziehung in den Grundqualifikationen und -haltungen bei. Das Fach Informatik spielt hier keine Sonderrolle.

Rechnereinsatz allgemein

Die flächendeckende Einführung der Rechnernutzung in den Unterricht aller Fächer wird zu einer weiteren Absenkung des Niveaus in den Grundfertigkeiten führen. Niemand kann sicherstellen, daß die Lehrkräfte nicht den für sie leichten Weg der Beaufsichtigung klickender Schüler gehen. Die schöne neue Welt des moderierenden Lehrers mit den selbstbestimmt aus dem Internet multimedial "lernenden" Schülern wird in einer Abstimmung mit den Füßen enden: weg an die Privatschulen mit "echten" Lehrern.

Administration

Das Anforderungsprofil für die Aufgaben zur Verwaltung eines Schulnetzes - zumal in einer Ausbauform der aktuell politisch diskutierten Größenordnung - trifft haargenau das Berufsbild des Netzwerkadministrators. Der Zeitaufwand wird in der rauhen Schulumgebung eher höher anzusetzen sein als bei vergleichbaren Installationen in der Industrie. Dafür sind Planstellen nötig. Informatiklehrkräfte sind einerseits von der Ausbildung her in der Regel ungeeignet für diese Aufgabe, andererseits selbst nach Schulung mit der Verantwortung für einen dauerhaften geregelten Rechenbetrieb hoffnungslos überfordert. Alternativen zum schuleigenen Netzbetrieb (z.B. fernadministrierte lokale Proxy- und Bootserver bei schneller Netzanbindung) sollten durchgerechnet und erprobt werden.
Letzte Aktualisierung: P. Bartke und Ch. Maurer, 28. August 2000