Kritische Stimmen zum Thema "Rechnereinsatz" in der Schule

(Nicht autorisierte) Übersetzung eines Artikels im Time-Magazine vom 25.5.1998 von

Prof. Dr. David Gelernter (Yale-University, USA)

zur Frage:

Sollten Schulen ans Internet angeschlossen werden?

Nein - Lerne zuerst, surfe später

Quacksalberei taucht in zwei verschiedenen Formen auf: "nutzlos, aber unschädlich" und "gefährlich". Der Plan der Regierung, alle amerikanischen Klassenräume mit dem Internet zu verkabeln, ist gefährliche Quacksalberei. Vier Fünftel der Schulen in den USA haben schon einen Internet-Anschluß; anstatt auch noch den Rest anzuschließen, sollten wir lieber ein überraschend neues Erziehungsprinzip ins Auge fassen: Lernt zuerst Lesen und Schreiben, Geschichte und Arithmetik; dann spielt Frisbee, geht Angeln oder surft im Internet. Zuerst die Schule, dann den Spaß.

Ich benutze das Internet seit September 1982 fast jeden Tag. Es bietet großartige Möglichkeiten, sich Informationen zu besorgen, zu kommunizieren und einzukaufen. Und in einem gewissen Sinn paßt es auch zur amerikanischen Lebensart. Bis Anfang der neunziger Jahre schien die tägliche geschriebene Kommunikation auszusterben; dank E-Mail und Faxgeräten ist das Schreiben wieder modern geworden. So gesehen könnte das Internet ein brauchbares Medium für den Unterricht sein - eine Möglichkeit, die wenigen guten Lehrer, die imstande sind, das Schreiben zu lehren, gemeinsam zu nutzen. Ein Lehrer könnte die Schüler eines ganzen Distrikts unterrichten, wenn alle elektronisch verbunden wären.

Aber der Vorstoß, jede Schule an das Netz anzuschließen, wird eine pädagogische Katastrophe zur Folge haben. Unsere Schulen befinden sich in einer Krise. Statistiken beweisen, was ich als Vater und als Hochschullehrer jeden Tag sehe. Meine Frau und ich führen einen ständigen Kampf, unsere Jungen dahinzubringen, daß sie gewisse dringend benötigte Grundfertigkeiten beherrschen, die unsere Schulen aber zu lehren hassen. Als Hochschullehrer sehe ich die traurigen Konsequenzen: Studenten, die nicht einmal ein bißchen schreiben können, die mangelnde Kenntnisse in Elementarmathematik haben und über zu wenig sprachliche Kompetenz verfügen. Unsere Schulen fürchten sich davor, den Schülern zu sagen, daß sie sich hinsetzen, den Mund halten und lernen sollen: Übt und paukt, weil ihr gewisse Dinge einfach können müßt - egal, ob es Spaß macht oder nicht. Die Kinder werden den Preis für diese Feigheit unseres Erziehungssystems bezahlen.

Ich habe noch nie ein Elternteil, Lehrer, Schüler, Chef oder gar Geschäftsmann getroffen, der behauptet hätte, daß zu wenig Daten die Wurzel des Problems seien. Im Internet kann man das neueste Zeug von überall her einsammeln, aber die wenigsten amerikanischen Oberschüler haben jemals eine Novelle von Mark Twain, ein Stück von Shakespeare, ein Gedicht von Wordsworth oder ein ernsthaftes Werk über die Geschichte der Vereinigten Staaten gelesen; zu viele sind schlecht in Naturwissenschaften, haben keine Ahnung von Mathematik und sind nicht in der Lage, einen Aufsatz zu verfassen - und wenn sie nun die neuesten Web-Seiten in Passaic oder Peru erreichen könnten, würde das Verbesserungen mit sich bringen? Das Internet, sagte Präsident Clinton im Februar, "könnte es jedem Kind mit Zugang zu einem Rechner möglich machen, mit einem Griff zur Tastatur jedes Buch zu erreichen, das jemals geschrieben wurde, jedes Gemälde, das jemals gemalt wurde, und jede Symphonie, die jemals komponiert wurde." Verzeihung, Herr Präsident, aber das ist vollkommener Unsinn. Die meisten amerikanischen Kinder wissen überhaupt nicht, was eine Symphonie ist. Wenn wir plötzlich einen Weg fänden, wie man jedem Kind nur einen Satz einer einzigen Symphonie beibringen könnte, wäre das schon ein Wunder.

Und unsere ungeübten Kinder sind von Informationen schon ohne das Internet überschüttet. Hochglanzmagazine und hundert-und-soundsoviele Kabelkanäle, Videobänder und CD-ROM's in den meisten Bibliotheken und vielen Haushalten - brauchen die Kinder noch mehr Information? Es ist, als ob die Regierung dazu aufrufen würde, daß jedes Kind die tollste Taucherausrüstung haben müßte, die es gibt - aber die Kinder können nicht schwimmen, und sie mit einer Taucherausrüstung auszustatten, ist nicht nur nutzlos, sondern sogar unverantwortlich; sie würden ertrinken.

Und es kommt noch schlimmer. Unsere Kinder sind eh' schon nicht in der Lage, eine Sache länger als nur einige Augenblicke aufmerksam zu verfolgen, aber das Internet ist ja geradezu eine Propaganda-Maschine für kurze Momente der Konzentration: Sowie es langweilig wird, klickt man mit der Maus, und schon ist man an einer anderen Stelle. Unsere Kinder ziehen sowieso schon Bilder den Worten vor, Glitzerkram der Substanz, tolle Verpackungen dem ernsthaften Inhalt. Aber das weltweite Netz macht schonungslos Reklame für Glitzerkram und Bilder, für Videos und modische Verpackung. Es liefert zwar jede Menge erstklassiger Information, aber ebenso ist es voll von Lügen, Müll und unbeschreiblich widerwärtiger Pornographie. Es fehlt jegliche Qualitätskontrolle im Netz.

Nun ließe sich einwenden: Stellen Sie sich eine gut geführte seriöse Schule mit einem Internet-Anschluß in der Bibliothek vor, den die Schüler gelegentlich unter Anleitung benutzen könnten, wenn sie an ernsthaften Projekten arbeiten; wäre das so schlecht? Nein. Das steht zwar nur ungefähr auf dem 944. Platz meiner Liste der wichtigen Verbesserungen für die Schule, wäre aber ganz in Ordnung. Aber in der Realität wird das wohl darauf hinauslaufen, daß zu viele Schulen das weltweite Netz genau so nutzen wie die Rechner selber: nämlich zur Unterhaltung der Kinder bei minimaler Anstrengung für die Lehrer. Wenn die Kinder dauernd unkontrolliert surfen dürfen, werden die Internet-Anschlüsse in den Schulen nicht zu einer geringfügigen Verbesserung der Erziehung, sondern in ein größeres Desaster führen. Noch eins. Genau das, was wir brauchen.


Übersetzt von Ch. Maurer, 26. April 1999
Letzte Aktualisierung: 28. Oktober 2012